Kalbsleber und Himbeerbrand
Fast ein Jahr ist vergangen, nach der ersten Restaurantkritik auf dem C4 Blog. Im Sinne der Entstehung der Welt war es nur ein kurzes Durchatmen, dafür ging es in die Walachei, aus der Sicht eines aktuellen Berliner Szenegängers, ins tiefste Charlottenburg zum Stuttgarter Platz. Geschrieben von Thomas Götz von Aust
Du musst die Buletten probieren. Als auch noch das Westberliner Gesicht des rbb Ulli Zelle auf der Homepage des Gasthaus Lentz lamojierte, dass nicht mehr der bürgerliche Hotspot hier in Charlottenburg, sondern sich im schicken Mitte und den anderen östlichen Szenebezirken abspiele, liess mich Berliner Spiessigkeit in Reinform erwarten: dunkle Ganzholzvertäfelung, fetttriefendes Essen und eine Bedienung namens Biggi, die jeden Wunsch von der Speisekarte mit „Ist aus“ quittiert.
Dass die Boulevardschaupielkönigin vom Kudamm Edith Hancke an einem Tisch im Aussenbereich sass, als ich ankam, vervollständigte mein Bild. Soviel die Klischess eines zugezogenen Berliners über Berlin und seiner typischen Gastronomie, hinein in die Realität: Das Lentz ist hell, mit renoviertem Stuck an den Decken und es gibt keine Musik. Was ich wirklich eine willkommene Abwechslung finde von der ständigen Loungeberieselung in den östlichen Szenebezirken. Apropos Schrillheit und Szene: Das Restaurant war an einem Donnerstag Abend nicht nur draussen gut, sondern auch innen bis auf einen grossen Tisch komplett besetzt, den ich mit einer älteren Dame teilte, die die ganze Zeit ununterbrochen vor sich hinpfeifte.
Sowieso, so scheint es mir, das Lentz ganz auf das Menschliche zu setzen: Die Kellnerin ausgebildet, was sich am sicheren Tragen von vier grossen Tellern zeigt, und wohl informiert über die Karte; der Wirt zapft schnell und führt ein eloquentes Regiment über den Tresen; und als auch der Küchenchef selbst den Thunfisch meiner pfeiffenden Tischnachbarin servierte, gabs ein pfiffiges Bonmot gleich für mich mit: „Noch können sie umbestellen.“
Ich blieb aber bei meiner Kalbsleber Berliner Art und ich muss gestehen: Ich hatte selten eine derart perfekt abgestimmte, cremig reduzierte und a point dosierte, kurzum phänomenale Sauce. Dass die Kräuter noch in der Sauce waren und nicht herauspassiert, verbuch ich unter Geschmacksfrage, auch wie die Küche mit medium roh ohne Nachfrage der Kellnerin meinen Wunschgarpunkt traf, geschenkt. Noch ein letztes Wort zur Kellnerin: Sie empfahl von sich aus eine Spezialität des Hauses und zugleich den Lieblingsschnaps des Wirts, einen Himbeerbrand. Wieder ein Volltreffer.
Ich hatte kaum eine der ausliegenden Zeitschriften aus dem reichhaltigen und vielfältigen Angebot aufgeschlagen, dann kam auch schon die Nachspeise: Wenn ich schon keine Bulette esse, dann wenigstens die Berliner Nachspeise schlechthin, Rote Grütze. War die Wartezeit auf die Leber nicht kurz, aber jede Minute wert, so war – leider, und das wird auch mein einziges bleiben – die Beerenmischung vermutlich hausgemacht, die Vanillesauce in keinem Fall. Was die Sauce des Hauptgerichts an Erwartung geweckt hatte, enttäuscht dann die Sauce der Nachspeise. Sie war nicht schlecht, aber einem Gasthaus mit offensichtlich hohem Anspruch an Fleisch, Bewirtung und Getränke – die Flasche Veltiner war eine spritzige wie moderate Begleitung zu 20€ – wurde sie nicht gerecht.
Gerechtigkeit muss ich dem Stuttgarter Platz widerfahren lassen: Das Lentz hat keinen Hauch stillgestandener und lamoyanter Berliner Spiessigkeit, sondern ist ein modernes, ganz auf seine erwähnten Stärken bauendes Gasthaus, wo man einfach gerne Gast ist. Danke für Ihren – bis bald steht auf dem Rechnungsbon. Gerne, Lentz und „Stutti“. Dass Edith Hancke wenige Tage nach meinem Besuch im Lentz verstorben ist, erfuhr ich aus der Zeitung.